Wirken Stimulanzien bei Neurodivergenten „paradox“?

Da ich das immer wieder so höre (sogar von Ärzten!) möchte ich hier mal eine gute Erklärung von Martin Winkler platzieren:

Eigentlich wirken Psychostimulanzien ja nicht „paradox“. Vielmehr werden die neurobiologischen Besonderheiten im Bereich der Netzwerke und der dopaminergen Bahnen im Gehirn quasi der Funktionsfähigkeit von Menschen ohne ADHS angenähert.

Paradox erscheint die Wirkung vielleicht bei sehr motorisch unruhigen Kids, weil hier eben durch quasi die innere Bremse verbessert wird (sog. Disinhibition). Durch die „wachere“ Vorderhirnfunktion (bzw. das sog. Task positive network) werden u.a. die Motorik, aber eben auch andere Netzwerkfunktionen wie Tagträumerei (im Default-Mode) bzw. emotionale Kontrolle quasi „begrenzt“. Methylphenidate wirkt als positiv auf funktionale Netzwerke, die bei ADHS beteiligt sind

Auch in anderen Aspekten wie die innere Grundspannung (Vigilanz), aber auch speziell im Bereich der Regulation der höheren Handlungsfunktionen (Exekutivfunktionen) und eben im Bereich der Reizfilterung und der emotionalen Regulation erreichen viele ADHSler dann eine deutliche Besserung gegenüber dem unbehandelten Status.

Andererseits ist es ja so, dass die Medikation häufig erstmal wie eine „Brille“ der Selbststeuerung wirkt. Die Medikation allein ist eine gute Unterstützung, aber wirkt nur, wenn damit auch eine Verhaltensänderung bzw. Unterstützung von aussen kommt. Manchmal geht das spontan, manchmal erweisen sich die Veränderungen der Wahrnehmung, der Impulskontrolle und der Emotionsregulation aber für die Kinder oder auch uns Erwachsenen schlicht „überfordernd“. Schliesslich kennt man ja letztlich nur den Zustand „ohne“ Medikation.

Wirkt Methylphenidat oder Amphetamin nun bei „normalen“ Menschen anders ?

Ja und Nein. Oder eher Nein als Ja.

Methylphenidat bzw. Stimulanzien wirken erstmal als „Weck-amin“. Sie sorgen dafür, dass man 2-3 h später erschöpft oder müde wird.

Beispielsweise als Busfahrer oder vielleicht auch bei Studenten. ADHSler beschreiben dann manchmal sogar eher, dass sie mit „Müdigkeit“ auf die erstmalige Gabe von MPH reagieren. Hier gibt es Studien, dass Stimulanzien als sog. „Cognitive enhancer“ so ziemlich sinnfrei sind und keinesfalls die von einigen Leuten bei missbräuchlicher Anwendung „erhoffte“ Leistungsverbesserung bringt. MPH macht also nicht intelligenter oder leistungsfähiger. Vielleicht können aber die vorhandenen Fähigkeiten bzw. die eigene Intelligenz und erlerntes besser „gesteuert“ bzw. das Selbstmanagement und die Selbstorganisation effizienter genutzt werden.

Wenn nun syndromtypische Probleme von ADHS bestehen, wird einfach der Effekt der Medikation auch für Aussenstehende häufig sehr deutlich sein. Das Gehirn wird in die Lage versetzt, die eigenen Netzwerke der Aktivierung und der inneren Bremse besser zu verwalten.

Bei Nicht-ADHSlern ist dagegen diese Verbesserung nicht zu erwarten. Im Gegenteil : Die meisten „Stinos“ = Stinknormal finden den Effekt von MPH dann eher unangenehm und es kann sogar als Unruhe bzw. Anspannung empfunden werden. Trennscharf als Diagnostik-Instrument ist das aber eben nicht.

Ich persönlich glaube bzw. habe die Erfahrung gemacht, dass der Effekt der inneren Entspannung bzw. Ruhe total ungewohnt ist und das Gehirn dann häufig mit Gähnen bzw auch einem Wunsch nach Ruhe und Rückzug reagiert. Gerade Kinder mit ADHS beschreiben auch häufig, dass sie sich erstmal an die ganzen Reize und Gefühle „gewöhnen“ müssen, die sie jetzt besser differenzieren und nicht als ein Gesamtbrei oder Überreizung wahrnehmen.

Ich möchte die Euphorie keinesfalls bremsen oder gar zerstören. Sehr häufig beobachten wir aber, dass die anfänglichen Effekte der Stimulanziengabe eben im Verlauf subjektiv abnehmen. Die Selbstwahrnehmung der Veränderungen spielt uns hier aber wohl auch einen Streich. Denn die anfänglichen Verbesserungen sind eben schon im positiven Sinne häufig krass. Im Verlauf holt uns dann der Alltag bzw. eben die neuropsychologischen Problemen der höheren Handlungsfunktionen ein. Hier wäre dann eben unbedingt ein Coaching bzw. eine darauf abgestimmte Verhaltenstherapie zu empfehlen. Auch kann es sein, dass eben dann erst deutlicher wird, was an emotionalen Auswirkungen auf das Selbstwert bis hin zu Traumatisierungen noch zu verarbeiten wäre.

Kann man aus der „paradoxen“ Wirkung von Methlyphenidat oder Amphetamin auf das Vorliegen oder Nicht-Vorhandensein von ADHS schliessen ?

Nein. Oder zumindest sollte man es nicht.

Ich gebe aber gerne zu, dass ich es durchaus als sehr charakteristisch sehe, wie die Medikation wirkt, wenn sie wirkt. Dies spielt bei mir in der klinischen Klinik-Praxis dann eine Rolle, wenn für mich nicht klar ist, ob nun Begleit- und Folgestörungen wie eine Depression, Bipolare Störung, Essstörung oder Borderline-Störung, aber auch Fatigue / Schmerzzustände nicht letztlich auf neuropsychologische Entwicklungsstörungen zurückgehen. Was ja sehr häufig der Fall ist.

Viele dieser Patientinnen und Patienten werden ja häufig eher mit „sedierenden“ Medikamenten behandelt, wenn sie über innere Unruhe und Anspannung klagen. Also Antidepressiva oder aber auch Neuroleptika. Und wenn hier eben ausreichend gute bzw. lange Behandlungen nicht zur Besserung führen, dann denke ich auch an eine ADHS-Konstitution. Und wenn sich dann medikamentös eine Besserung unter der veränderten Therapie ergibt, dann spricht es (für mich) natürlich für ADHS (und ggf. Autismus). Man könnte dann pragmatisch sagen : WER HEILT HAT RECHT.

Da die Dosierung von Methylphenidat aber eben hoch individuell eingestellt werden muss, kann man eben aus der Nicht-Wirkung nicht umgekehrt ADHS ausschliessen.

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